Warum Einstein niemals Socken trug • Wie scheinbar Nebensächliches unser Denken beeinflusst by Christian Ankowitsch

Warum Einstein niemals Socken trug • Wie scheinbar Nebensächliches unser Denken beeinflusst by Christian Ankowitsch

Autor:Christian Ankowitsch [Ankowitsch, Christian]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783644118713
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2015-02-16T16:00:00+00:00


Ein Fall für alle sieben Sinne

Je mehr Gerüche, Geschmäcker und Gefühle wir mit einem Ereignis verbinden, umso leichter behalten wir es im Gedächtnis – und umso schneller erinnern wir uns daran. Das gilt für den vergangenen Urlaub ebenso wie für Lateinvokabeln.

Als der Schriftsteller und spätere Nobelpreisträger Elias Canetti nach Marrakesch kommt, landet er, wie er in seinen späteren Reiseerinnerungen beschreibt[176], während eines Stadtspaziergangs auf «einem kleinen, rechteckigen Platz», in dessen Zentrum einige Garküchen stehen. «Manche brieten Fleisch, andere kleine Krapfen; sie hatten ihre Familie bei sich, die Frauen und Kinder.» Bauern in Berbertracht verkaufen lebende Hühner, am Rande des Platzes «waren Läden; in manchen arbeiteten Handwerker, ihr Hämmern und Klopfen tönte in den Lärm der Sprechenden».

Das alles schildert Elias Canetti eher beiläufig, ganz wie es seinem Vorsatz, ein herzloser Reisender zu sein, entspricht. Doch dann entdeckt er einen alten Bettler in der Mitte des Platzes. Und die Situation beginnt sich zu verändern: «Mit der Münze, die er bekam, wandte er sich sofort einem der kleinen Krapfen zu, die heftig in der Pfanne brutzelten. Es waren mancherlei Kunden um den Koch und der alte Bettler mußte warten, bis er an die Reihe kam. Aber er blieb geduldig, selbst so nah vor der Erfüllung seines dringlichen Wunsches. Als er den Krapfen schließlich bekommen hatte, stellte er sich damit wieder in die Mitte und aß ihn mit weit offenem Mund.» Und in diesem Moment ist es um Elias Canetti geschehen. Seine kühle Distanz verschwindet, er lässt sich vollkommen auf die Stimmung des Ortes ein: «Mir war zumute, als wäre ich nun wirklich woanders, am Ziel meiner Reise angelangt. Ich mochte nicht mehr weg von hier. Ich fand jene Dichte und Wärme des Lebens ausgestellt, die ich in mir selber fühle. Ich war dieser Platz, als ich dort stand. Ich glaube, ich bin immer dieser Platz.»

Es gibt sicher mehrere Lesarten dieser Szene aus den «Aufzeichnungen nach einer Reise», die Canetti zufällig, als Begleiter eines Filmteams, nach Marrakesch unternommen hat. Eine davon lautet: Als er auf den kleinen Platz kommt, bestürmen ihn eine Unzahl sinnlicher Eindrücke: der Anblick der Garköche, der Geruch des gebratenen Fleisches, das Hämmern und Klopfen der Handwerker, das Stimmengewirr, der (vorgestellte) Geschmack der brutzelnden Krapfen, das sinnlich wahrgenommene Behagen des essenden Bettlers. Möglicherweise führen ihn diese Eindrücke unvermittelt in die eigene Vergangenheit zurück. Und zwar in eine so frühe Phase, dass er dort keine konkreten Bilder findet und keine Sprache, sondern ein atmosphärisches Ganzes. Doch warum hat dieser kleine Platz den Schriftsteller so gefesselt? Und warum hat sich die Erinnerung daran so tief in seinem Gedächtnis verankert (das Buch veröffentlichte er erst ein Jahrzehnt nach der Reise)? All das hängt, so viel sei vorweggenommen, mit den vielfältigen Sinneseindrücken zusammen, die auf Canetti eingestürmt sind.

Es ist hinlänglich bekannt, dass sich uns etwas umso tiefer ins Gedächtnis gräbt, je öfter wir es erleben. Weniger bewusst ist den meisten, dass das auch dann geschieht, je mehr Sinneseindrücke, Gefühle und Körperbewegungen damit verbunden sind. Das gilt für Ereignisse ebenso wie für Fähigkeiten und Lateinvokabeln. Es



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